„Zweitzeugen“ zu Gast am HvGG: „Fragt eure Eltern und Großeltern nach ihrer Geschichte!“
Auch in diesem Jahr besuchen wieder Gäste des Projekts „Jüdisches Leben in Frankfurt“ das Heinrich-von-Gagern-Gymnasium. Diese sind extra aus Israel nach Frankfurt gereist.
Beim diesjährigen Besuch der sogenannten „Zweitzeugen“ berichten Avishag Gross, Arie Salomon und auch Rina Nentwig von ihren Erfahrungen mit einer Familiengeschichte, die durch Verfolgung in der NS-Zeit, aber auch einen Neuanfang in Israel geprägt war. Besucht wurde diesmal die Klasse 9b, die sich auf das Gespräch mit ihren Besuchern sorgfältig vorbereiten hatte.
Doch zunächst wurden die Gäste von Frau Hofmann und Herrn Dr. Köhler begrüßt. Die Führung durch die Schule war umso interessanter, weil sowohl der Großvater von Arie Salomon, Leon Hackenbroch, als auch der Großvater von Rina Nentwig die Samson-Raphael-Hirsch-Schule besucht hatten, die sich auf dem Gelände unseres heutigen Neubaus befand. Am Eingang und im 1. Stock befinden sich auch heute noch Tafeln, die auf die Geschichte der Schule und ihrer Schüler hinweisen.
Nach einer beeindruckenden musikalischen Darbietung durch die Schwestern Veronika und Franziska Schwamm in der Aula kam es zum eigentlichen Zeitzeugengespräch.
Auf diesem Weg erfuhren die Schülerinnen und Schüler, dass die Familie von Avishag Gross Ende des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa nach Frankfurt gekommen war. Die Familie hatte im Sandweg gelebt und war 1936 nach Palästina geflohen. Die meisten Familienangehörigen konnten nach Palästina oder nach England fliehen. Allerdings wurde ein Bruder des Großvaters, Jakob Horngrad, mit seiner Frau Pauline von Berlin aus nach Auschwitz deportiert. Avishag war so in ihrem Freundeskreis eine von wenigen, die in ihrer Kindheit zwei Großelternpaare besaß.
Auch Arie Salomons Familie konnte größtenteils noch aus Deutschland fliehen. Aufgrund der zunehmenden Einschränkungen und schließlich der Aufgabe des Geschäftes 1938 fand die Auswanderung in mehreren Schritten statt. Großvater Leon ging schon 1938 nach England, wohin ihm seine Frau und die jüngeren Kinder 1939 folgten. Einige von ihnen wanderten später ebenfalls nach Israel aus. Möglich war dies nur durch viel Glück sowie einen für die Zeit hohen Kredit, den ein niederländischer Verwandter organisiert hatte.
Rina Nentwig berichtete über die Lebensgeschichte ihrer Mutter, die durch einen Kindertransport gerettet werden konnte. Durch Tagebucheinträge, die sie teilweise im niederländischen Versteck verfasst hatte, konnten ihre Erlebnisse später genau rekonstruiert werden. Im Jugendbuch „Zu keinem ein Wort“ können sie auch heute noch nachgelesen werden. Frau Nentwig, die in Israel und Deutschland aufwuchs, berichtet auch von der schwierigen Suche nach der eigenen Identität, und, dass man sich auch in zwei Nationen heimisch fühlen könne.
Der Neuanfang in Israel war für die Elterngeneration zunächst nicht leicht, weil es keine Unterstützung durch den Staat gab und die erlebte Verfolgung in der Gesellschaft nicht thematisiert wurde. Auch in der Familie war der Holocaust kein Thema: Sowohl die Großeltern als auch Eltern wollten über das Erlebte nicht sprechen. Erst durch den Prozess gegen Adolf Eichmann 1962 wurde die Shoah ein gesellschaftliches Thema.
Daher begannen Herr Salomon und Frau Gross erst spät nach der Geschichte ihrer Familie zu forschen. Einige Unterlagen aus den Archiven Frankfurts gaben ihnen Aufschluss über die Geschichte ihrer Großeltern und Eltern, doch stellten beide fest, dass sie diese Informationen bevorzugt von ihren Großeltern erfahren hätten. Ganz in diesem Sinne richteten sie den eindringlichen Appell an die Schülerinnen und Schüler, mit den Eltern und Großeltern das Gespräch über deren Geschichte zu suchen.
Wir bedanken uns herzlich für das gemeinsame Gespräch und sind uns sicher, dass es noch lange nachklingen wird.
Text und Fotos: Sarah Richter-Seitz und Iris Hofmann