Ehemalige Frankfurter zu Besuch im HvGG (9. November 2021):

Text und Fotos von Iris Hofmann

„People were lost for history, but now, for me, they are alive.” – Die komplizierte Suche nach der eigenen Familiengeschichte

Auch in diesem Jahr besuchte ein Zeitzeuge unsere Schule. Herr Milt Hess (*1941) und sein Sohn Sanford (*1971) reisten extra aus den USA an. Sie gehören der zweiten und dritten Generation der Zeitzeugen an. Sie nahmen selbst bzw. als Begleitung an dem Projekt „Jüdisches Leben in Frankfurt“ teil. Dazu haben sie die Einladung der Stadt Frankfurt angenommen und in diesem Zusammenhang auch den Ort aufgesucht, an dem die ehemalige Samson–Raphael-Hirsch-Schule stand, wo sich heute der Neubau unserer Schule befindet.

An den Zeitzeugengespräch in englischer Sprache nahmen Schüler:innen der Ec teil. Mit unserem Gast sprachen sie über seine Familiengeschichte, die Erlebnisse seiner Eltern und Großeltern im Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert sowie das Leben in den USA ab 1923.

Hr. Hess ließ die Schüler:innen teilhaben an den Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit in Baltimore, sein Leben in den USA und seine Recherche zu seiner Familiengeschichte, die ihn durch ganz Europa reisen ließ.
Seine Eltern hätten mit ihm nie über ihren Familienhintergrund gesprochen, sein Vater verstarb 1961, seine Mutter 1981. Daher erging der eindringliche Appell von Herrn Hess an die Schüler:innen, die Großeltern nach ihrer Vergangenheit zu fragen und die Informationen zur Erinnerung auch aufzuzeichnen.
Sein Kontakt mit der Genealogy-Software war im Jahre 2000 der Anstoß für seine Nachforschungen. Diese sei in den USA sehr beliebt, da man als Amerikaner häufig über Vorfahren aus vielen verschiedenen Nationen verfüge.

Durch seine aufwendige und komplizierte Recherche in Rathäusern, die Sichtung von Ehezertifikaten (von 1887), Onlineversionen von alten Adressbüchern und mit Unterstützung vieler hilfsbereiter Menschen konnte er bis dato viele Informationen zusammentragen. Zusätzlich konnte er durch Reisen nach Litauen und in die Ukraine, um die Wohnorte der Eltern und Großeltern zu besichtigen, weitere Details zusammentragen. So fand Herr Hess auch entfernte Cousins, von denen er vorher nichts wusste.

Die Nachforschungen ergaben, dass seine Familie mütterlicherseits aus Nieder-Florstadt und Nieder-Mockstadt kam.
Väterlicherseits stammte die Familie aus Frankfurt. Seine Großeltern wohnten ab 1889 mit ihren 13 Kindern im Musikantenweg 39 nahe unserer Schule, nachdem sie mehrfach innerhalb Frankfurts umgezogen waren.
Seine älteste Tante Ida besuchte 1909 ihren Onkel Louis in Philadelphia und blieb auch dort. Sein Vater wanderte dann im Jahre 1923 zusammen mit fünf Geschwistern und der mittlerweile verwitweten Großmutter Bertha auch in die USA aus.
Im Jahre 1933 kam seine Oma Bertha noch einmal nach Frankfurt zurück und wollte auch ihre anderen Kinder aufgrund der sich zuspitzenden politischen Lage zur Auswanderung bewegen. Da diese aber sehr heimatverbunden waren, einige auch im 1. Weltkrieg gekämpft hatten, bleiben sie in Frankfurt. Zwischen 1943 und 1945 wurden sie in Theresienstadt und Auschwitz ermordet oder starben an den Folgen der Lagerhaft. Heute liegen Stolpersteine zu ihrer Erinnerung an ihrem ehemaligen Wohnort.
Sein Besuch im Musikantenweg 39 war daher besonders, denn, wie er sagte: „People were lost for history, but now, for me, they are alive.” Das habe ihn sehr glücklich gemacht, weil es eine Ehrung der Vorfahren gewesen sei.

Bei der anschließenden Fragerunde mit den Schüler:innen wurden dann auch der Antisemitismus und die aktuelle Politik in den USA thematisiert sowie der Umgang mit seinem jüdische Hintergrund im Alltag.
Gefragt wurde auch nach Vorurteilen im Zusammenhang mit Deutschland. Herr Hess berichtete, dass deutsche Produkte und auch ein Besuch in Deutschland direkt nach dem Zweiten Weltkrieg nicht populär gewesen seien. Seine eigene Erfahrung hingegen sei durchweg gut, auch heute habe er ein positives Gefühl zu sagen: „I am happy to say‚ I am of German descendant‘.“

Im Vorfeld des Gesprächs nahmen die Gäste an einem kleinen Rundgang durch die Schule teil und bekamen dabei auch ein Privatkonzert von Helena in der Aula. Sie sahen die Gedenktafel vor der Schule und die Kastanie auf dem Schulhof, die schon in den 1930ern auf dem Gelände der ehemaligen Samson–Raphael-Hirsch-Schule stand.
Unser Schulleiter Herr Dr. Köhler begrüßte die Gäste herzlich im Namen der Schulgemeinde.
Bei einem koscheren Imbiss fanden noch weitere anregende Gespräche statt, bevor die Besucher aufbrachen, um weitere geschichtsträchtige Orte innerhalb und um Frankfurt zu besuchen und an der Gedenkfeier anlässlich des 9. November teilzunehmen.